Sozialversicherungsreform: Großer Wurf oder große Mogelpackung?
Eine Reform der Sozialversicherungen wird aus verschiedenen Gründen seit vielen Jahren gefordert, allein es fehlten Mut und Glaube. Die türkis-blaue Regierung hat sich diese Reform zum Ziel gesetzt und nun ihre Vorstellungen präsentiert.
Eine Milliarde Euro soll die Reform kumuliert bis 2023 aus dem System herausschneiden und den Patientinnen und Patienten zugutekommen. Die sogenannte Patientenmilliarde.
Warum jubeln wir nicht alle ob dieses großartigen Vorhabens?
- SPÖ und Arbeitnehmervertretungen jubeln nicht, weil man ihren Einfluss in Form von Funktionärsposten beschnitten hat.
- Die Krankenkassen jubeln nicht, weil sie das Rotationsprinzip im Vorsitz des Dachverbands, die Kompetenzverteilung und die finanzielle Transparenz ablehnen. Mehr dazu
- Die Patient_innen jubeln nicht, weil sie sich nicht auskennen und ihnen glaubhaft versichert werden kann, dass es diese Patientenmilliarde nicht geben wird.
- Die, die sich eine ernsthafte Reform gewünscht hatten, sind restlos enttäuscht, weil die wesentlichen Punkte wie Leistungsharmonisierung, Wegfall der Mehrfachversicherungen, einheitliche Abgabeneinhebung über die Finanz, Finanzierung des Gesundheitssystems aus einer Hand oder strukturierte hausarztzentrierte Versorgungsprogramme nicht geben wird und außer einer politischen Umfärbung wenig bleiben wird.
Kein Gesundheitsökonom konnte die „Patientenmilliarde“ nachrechnen. Einsparungen aus der gemeinsamen Nutzung z.B. der IT-Systeme werden nicht mehr nennenswert erwartet, da dies schon in den vergangenen Jahren vorweggenommen wurde. Hingegen wird mit Fusionskosten gerechnet, die die Einsparungen mit gegenteiligem Vorzeichen erreichen. Aber auch diese Zahlen sind nur Grobschätzungen auf Basis bisheriger ähnlicher Vorgänge
. Als gelernte Österreicherin darf man aber eher auf die Ausgabenschätzungen noch was drauflegen als an die Einnahmenschätzungen glauben.
Warum bräuchten wir aber eine echte Sozialversicherungsreform so dringend? Wir haben (noch) eine vergleichsweise sehr gute Gesundheitsversorgung, aber die Kosten steigen rasant und die Ineffizienzen im System lassen das Getriebe ordentlich knirschen.
Kompetenzverflechtungen, die absurde Auswüchse zeitigen, bei welchem konkreten Fall welche Versicherung zuständig ist. Völlig unterschiedliche Leistungen der Gebietskrankenkassen in den einzelnen Bundesländern, obwohl doch für jede_n Arbeitnehmer_in der gleiche prozentuelle Beitrag eingezahlt wird.
Insgesamt ist die duale Finanzierung des Gesundheitssystems ein Kernproblem: Für die Finanzierung des niedergelassenen Bereichs sind die Sozialversicherungsträger zuständig
. Die Experten sind sich rundum einig, dass die primäre Gesundheitsversorgung im niedergelassenen Bereich wesentlich kostengünstiger, aber auch viel bedarfsgerechter erfolgen kann als in spezialisierten Krankenhäusern (Bundesländer zuständig). In der im Sommer 2017 veröffentlichten, vom Sozialministerium in Auftrag gegebenen Studie der London School of Economics (LSE) „Effizienzanalyse des österreichischen Sozialversicherungs- und Gesundheitssystems“ wurde auf die Problematik der dualen Finanzierung hingewiesen: „Trotz verschiedenster Bemühungen um eine verstärkte Koordinierung und Angleichung der Interessen mussten wir feststellen, dass das österreichische Gesundheitssystem aufgrund seiner vielschichtigen Verwaltungsstruktur und dualen Finanzierung komplex und fragmentiert ist
. Besonders die Aufteilung der Finanzierung von intra- und extramuralen Leistungen zwischen den Bundesländern und Sozialversicherungen kann die Betreuungskontinuität beeinträchtigen und zu Kostenverschiebungen führen. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass zurzeit die Gesundheitsergebnisse innerhalb der Bevölkerung schlechter und die Gesamtkosten höher ausfallen, als dies in einem koordinierten System der Fall wäre […] Zu den wesentlichsten Schwachpunkten zählen: der Mangel an Koordination in der Primärversorgung, zwischen niedergelassenen Fachärzten und Spitälern, […]
. Eine solche Struktur führt zu Ineffizienzen, die sich in der relativ hohen Anzahl von vermeidbaren Spitalsaufnahmen manifestieren.“
Und das muss eine Kassenreform aus unserer Sicht können:
- Ende der Krankenfürsorgeanstalten – diese Relikte eines Privilegienstadels wurden in der Reform nicht einmal erwähnt.
- Es braucht Solidarität für alle Beitragszahlenden: Alle Kassen müssen in einen Risiko-Strukturausgleich einbezogen werden.
- Klare und vereinfachte Kompetenzregelungen
- Abschaffung der Mehrfachversicherungen – jeder zahlt bis maximal der Höchstbeitragsgrundlage
- Finanzierung aus einer Hand zur sinnvollen Lenkung von Patientenströmen.
Die Regierung Kurz/Strache hat die Chance, echte Reformen in Angriff zu nehmen. Das Hauptargument ihrer Gesandten in Diskussionssendungen lautet: „Aber wir haben die Mehrheit.“ Außer Ankündigungen und bombastischen Inszenierungen haben wir aber seit einem Jahr nichts gesehen, jedenfalls nichts, was positive zukünftige Weichenstellungen betrifft. Was hat der ganze Marketing-Schmäh mit der Realität der Menschen zu tun?