Gesundheit und Vorsorge in NÖ: Wohin geht die Reise?
Das Covid-19-Virus ist noch nicht Geschichte. Mit abnehmendem Interesse, aber immer noch einem mulmigen Gefühl verfolgt der zunehmend genervte Bürger die statistischen Daten und bunten Säulenreihen in den Nachrichten. Fest steht: Die Arbeit an einem wirksamen und leistbaren Gesundheitssystem für unser Land ist weder abgeschlossen, noch stellen sich bisherige Überkapazitäten bei den Spitalsbetten als Allheilmittel heraus.
Wir müssen die weitere Entwicklung der Infektionen im Auge behalten und gleichzeitig den Balken, der den Blick auf die Kollateralschäden zu verdecken droht, zur Seite schieben.
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Von welchen Schäden sprechen wir da? Wir werden erst in einigen Monaten oder gar Jahren nachvollziehen können, in welchem Ausmaß medizinische Behandlungen zu spät erfolgt sind, wie die Versorgung chronisch Kranker funktioniert hat, welchen Einfluss die Corona-Beschränkungen und vor allem die bewusste Verbreitung von Angst auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung hatten. Isolationsängste und wirtschaftliche Existenzängste sind dabei besonders hervorzuheben.
Eine gute Gesundheitsversorgung beginnt nicht in der Spitzenmedizin, sondern bei Grundfaktoren wie gesunde Ernährung, Bewegung, soziale Kontakte, sichere Arbeitsplätze und ein Mindestmaß an persönlicher Gesundheitskompetenz. Diese Faktoren unterstützen auch den Aufbau eines guten Immunsystems. Die ersten Anlaufstellen, wenn etwas aus dem Gleichgewicht kommt, sind die Ärztinnen und Ärzte im niedergelassenen Bereich, unterstützt durch die in weiteren Gesundheitsberufen Tätige. Gerade während der Corona-Pandemie halten sie – oft unbemerkt und unbedankt – die Versorgung aufrecht. Eine Praktikersicht lesen Sie hier.
Ja, es stehen Veränderungen in unserem Gesundheitssystem bevor, daran hat die Corona-Pandemie nichts geändert:
- Die demografische Entwicklung hin zu einer alternden Gesellschaft erhöht den Bedarf von Gesundheitsleistungen weiter.
- Absolvent_innen der medizinischen Fakultäten gibt es im internationalen Vergleich genug – aber sie landen leider zu wenig an jenen Stellen, wo sie dringend gebraucht werden, nämlich in der Primärversorgung. Wenn aber Ärzte ausgerechnet während einer Gesundheitskrise um ihre eigene wirtschaftliche Existenz bangen müssen, dann tut das weh und ist das das falsche Signal für Jungärzt_innen! Lesen Sie hier den Weckruf eines Wahlarztes aus Niederösterreich.
- Die Leistbarkeit des Gesundheitssystems muss uns ein wichtiges Anliegen bleiben. „Koste es, was es wolle“, hieß es gleich zu Beginn des Shutdowns. Tag für Tag erleben Unternehmer_innen, dass die versprochenen Hilfsgelder nicht oder nicht schnell genug fließen, viele auch jetzt schon an der Herz-Lungen-Maschine hängen und so manche diese Krise wirtschaftlich nicht überleben werden. „Koste es, was es wolle“ wird einem daher in Zukunft auch keiner mehr glauben.
Es tauchen bereits Meldungen von politischen Verantwortungsträgern, wie z.B. dem Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker oder dem für die NÖ Landeskliniken zuständigen Landesrat Stephan Pernkopf, in den Medien auf, wie gut es gewesen sei, dass man den jahrelangen Empfehlungen des Rechnungshofes NICHT gefolgt sei, welcher immer wieder die Reduktion der Akutbetten gefordert habe. Tatsächlich haben wir in Österreich mit 5,5 Akutbetten je 1.000 Einwohner mehr als doppelt so viele wie in Dänemark (2,5) und Singapur (1,98), die ebenfalls bisher gut durch die Krise gekommen sind. Der Public Health Experte des Instituts für Höhere Studien (IHS), Thomas Czypionka, zeigt anhand der Zahlen des Gesundheitsministeriums auf, dass seit Anfang April die verfügbaren Akutbetten an keinem Tag zu mehr als fünf Prozent belegt waren, bei den Intensivbetten lag die Auslastung bei höchstens einem Viertel
. Siehe dazu den Artikel in der Tageszeitung Standard. Die hohe Anzahl der Akutbetten hat also bisher keine Rolle dabei gespielt, dass die Zahl der Intensivpatienten bisher so niedrig war.
Statt dessen werden andere Faktoren genannt, warum wir im Verhältnis zu Norditalien bessere Karten hatten:
- Norditalien hat eine durchschnittlich noch ältere Bevölkerung
- Die Wohnsituation dort ist eine andere, weil deutlich mehr 30-50Jährige mit der älteren Generation in einem Haushalt leben
- Ausbrüche von Infektionsherden in Altenheimen und Krankenhäusern. – Hier muss man im Auge behalten: Wo findet die medizinische Versorgung statt und wie ist diese ausgestattet?
- Nicht zuletzt hatten wir ca. 14 Tage Vorsprung für entsprechende Maßnahmen.
Während wir lernen müssen, mit der aktuellen und womöglich mit zukünftigen Epidemien und Pandemien umzugehen, müssen wir unser Gesundheitssystem weiterentwickeln.
Was zu tun ist:
- Umleitung eines Teils der Mittel von den Spitälern in die Primärversorgung (Hausärztinnen und Hausärzte in der Allgemeinmedizin, seien es Einzel- oder Gruppenpraxen, seien es Primärversorgungszentren oder -netzwerke).
- Attraktivierung der Tätigkeit als Allgemeinmediziner_in durch Facharztausbildung Allgemeinmedizin, angemessene Honorierung der Leistungen durch die Kassen und Flexibilität in der Gestaltung des Kassenvertrages.
- Abbau der Bürokratie für die Kassenärzt_innen mit einem verbesserten ELGA-System, das alle relevanten Daten verknüpft und auswertbar macht; verbunden mit einem höchstmöglichen Schutz von personenbezogenen Daten.
- Ergänzender Einsatz von Telemedizin unter Berücksichtigung neuer Tools und Weiterentwicklung der Kompetenzen bei Ärzt_innen und Patient_innen.
- Vernetzung (Ärzt_innen untereinander ebenso wie mit im Gesundheitsberuf Tätigen, insbesondere auch mit selbständig agierenden Pflegekräften)
- Aktualisierung des Pandemieplans und des Krisenmanagements – hier müssen wir in wenigen Monaten unfassbar viel dazu gelernt haben, sodass Versorgungsengpässe wie bei der Schutzausrüstung, fehlende Information und missglückte Kommunikation keinen Platz haben dürfen. Die Frage, die wir beantworten müssen, wird sein: Wie können wir im Bedarfsfall das Gesundheitssystem zu einem Pandemie-System hochfahren? und nicht: Wie sehr müssen wir die wirtschaftliche Lebensgrundlage der Menschen niederfahren?
- Mittel in die Forschung! Dazu müssen anonymisierte Daten zunächst erfasst und danach zugänglich gemacht werden. „Alles war neu für uns“ wird man in Zukunft auch nicht mehr als Begründung durchgehen lassen können.
Krisen sind Chancen. Es gilt sie zu nutzen und zu lernen. Es ist keine Tragödie, wenn man eine Situation im Nachhinein anders beurteilt als zu Beginn, so lange man sich ernsthaft und faktenbasiert bemüht hat. Wenn wir daraus bessere Entscheidungen für die Zukunft ableiten und treffen, wird alles gut, oder zumindest nächstes Mal besser. Der Top-Kandidat für das Unwort, oder besser gesagt den „Unsatz“ des Jahres hingegen lautet: „Wir haben alles richtig gemacht.“ Das haben „wir“ – in großzügiger Verwendung des Wortes – nämlich nicht.